Daoistische Poesie und Prosa


Mein Haus baute ich mitten in der Menschensiedlung,
und höre doch den Lärm von Pferd und Wagen nicht.
Du fragst, wie das denn möglich sei? –
Ist dein Herz losgelöst, ist auch der Wohnort friedlich.
Ich sammle Chrysanthemen an der Osthecke,
schau´ still hinüber zu den Südbergen;
die Bergluft – frisch zur Abenddämmerung,
paarweise kehren Vögel heim ins Nest.
In allen diesen Dingen liegt ein tiefer Sinn,
will ich ihn aussprechen, so fehlen mir die Worte.
— T´ao Ch´ien (365 – 427)

 

Der Pavillon im See

In leichter Gondel fahre ich dem teuren Gast entgegen,
weit weit dort draußen kommt er übern See…
Auf der Veranda sitzen wir mit einem Krug voll Wein, während sich ringsumher die Lotusblüten öffnen.
— Wang Wei (ca. 700 – 761)

 

Ausflug zum Hsiang-Chi-Tempel

Da ich den Hsiang-Chi-Tempel noch nicht kannte,
stieg ich meilenweit in die wolkenverhangenen Gipfel.
Uralte Bäume und keines Menschen Spur,
tief im Gebirge – woher der Glockenklang?
Bachgeräusche, Gurgeln zwischen schroffen Felsen,
Sonnengeflimmer, Kühle unter hohen Tannen.
In der Abenddämmerung, am Rand des verlassenen Teiches,
sitzen in Stille, den giftigen Drachen bezähmend.
— Wang Wei (ca. 700 – 761)

Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist!
Tue das Große da, wo es noch klein ist!
Alles Schwere auf Erden beginnt stets als Leichtes.
Alles Große auf Erden beginnt stets als Kleines.

Darum: Tut der Berufene nie etwas Großes,
so kann er seine großen Taten vollenden.
— Laozi (6. Jhdt. v. Chr.)

 
Wie in einer alten Geschichte überliefert wird, fragte einmal ein Fürst des frühen China seinen Arzt, der aus einer Heilerfamilie stammte, welcher von ihnen in der Heilkunst am meisten bewandert wäre.

Der Arzt, dessen Ruf so gut war, daß sein Name gleichbedeutend mit der Heilkunst in China war, antwortete: ›Mein ältester Bruder sieht den Geist der Krankheit und entfernt ihn, bevor er Gestalt annimmt, daher dringt sein Name nicht über das Haus hinaus. Mein älterer Bruder heilt Krankheiten, wenn sie noch kaum in Erscheinung treten, daher dringt sein Name nicht über die Nachbarschaft hinaus. Was mich betrifft, so punktiere ich Venen, verschreibe Arzneien und massiere die Haut, daher dringt mein Name manchmal bis in die Ferne und an die Ohren der Herrscher.‹
 

Der Koch

Der Fürst Wen Hui hatte einen Koch, der für ihn einen Ochsen zerteilte. Er legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte das Knie an: ritsch! ratsch! – trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes, und er traf immer genau die Gelenke.

Der Fürst Wen Hui sprach: ›Ei, vortrefflich! Das nenn´ ich Geschicklichkeit!‹ Der Koch legte das Messer beiseite und antwortete zum Fürsten gewandt: ›Der Sinn ist´s, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ich´s soweit gebracht, daß ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor mir sah. Heutzutage verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab´ ich aufgegeben und handle nur noch nach den Regungen des Geistes. Ich folge den natürlichen Linien nach, dringe ein in die großen Spalten und fahre den großen Höhlungen entlang. Ich verlasse mich auf die (anatomischen) Gesetze. Geschickt folge ich auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und Sehnen, von den großen Gelenken ganz zu schweigen.

Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein stümperhafter Koch muß das Messer alle Monate wechseln, weil er hackt. Ich habe mein Messer nun schon neunzehn Jahre lang und habe schon mehrere tausend Rinder zerlegt, und doch ist seine Schneide wie frisch geschliffen. Die Gelenke haben Zwischenräume; des Messers Schneide hat keine Dicke. Was aber keine Dicke hat, dringt in Zwischenräume ein – ungehindert, wie spielend, so daß die Klinge Platz genug hat. Darum habe ich das Messer nun schon neunzehn Jahre, und die Klinge ist wie frisch geschliffen. Und doch, so oft ich an eine Gelenkverbindung komme, sehe ich die Schwierigkeiten. Vorsichtig nehme ich mich in acht, sehe zu, wo ich haltmachen muß, und gehe ganz langsam weiter und bewege das Messer kaum merklich – plötzlich ist es auseinander und fällt wie ein Erdenkloß zu Boden. Dann stehe ich da mit dem Messer in der Hand und blicke mich nach allen Seiten um. Ich zögere noch einen Augenblick befriedigt, dann reinige ich das Messer und tue es beiseite.‹

Der Fürst Wen Hui sprach: ›Vortrefflich! Ich habe die Worte eines Kochs gehört und habe die Pflege des Lebens gelernt.‹
— Zhuang Zi (ca. 350 – 275 v. Chr.)